Ich bin nicht schuld.

Jahrelang, vielleicht sogar mein Leben lang, habe ich mir immer selbst die Schuld gegeben. Bei allem, das nicht klappte, habe ich versagt. Schon wieder! Schon wieder nicht geschafft, auf mein Kind liebevoll einzugehen. Schon wieder gebrüllt, schon wieder Strafen angedroht. Dabei weiß ich doch, was autoritäre Erziehung und Strafen dem Kind antun. Früher war ich schuld, dass meine Mutter immer so wütend war. Ich war eben besonders trotzig, besonders ängstlich, besonders anstrengend … Was hätte sie tun sollen, anstatt wütend zu werden bei einem Kind wie mir?

Später liebte ich einen Menschen so sehr, doch er wollte mich nicht. Nicht genug. Es reichte halt nicht. Der Zeitpunkt war falsch. Angeblich. Nein, ICH war falsch. Ganz sicher. Wäre ich besser gewesen, hätte es gereicht. Natürlich kann man mich nicht lieben, wo ich doch so anstrengend bin. Kein Wunder, dass es niemand mit mir aushält. Ich hätte einfach besser sein müssen. Unkomplizierter, liebenswerter, wertvoller, attraktiver.

Dann bekam ich Kinder. Als ich zum ersten Mal von „bedürfnisorientierter Erziehung“ las, war mir sofort klar: So will ich mein Kind erziehen! Es war alles so logisch, so sinnvoll, so verständlich. Das Kind und seine Bedürfnisse sehen. Das Kind nicht abwerten, sondern es in seinen Gefühlen begleiten. Je mehr Reels und Posts ich sah, desto mehr bestärkte mich das darin. Mütter, die liebevoll und mit Verständnis reagierten, anstatt zu schimpfen. Ja! Das ist der Weg! Ich schaute immer mehr den Super-BO-Müttern zu, die auf Instagram zeigten, wie es richtig geht. So wollte ich auch sein.

Und so oft klappte es nicht. Jedes Mal, wenn ich mein Kind angebrüllt habe, fühlte ich mich schuldig. Versagt! Mal wieder. War ja klar. Was kann ich schon, außer zu versagen. Mein Kind verhält sich im Kindergarten respektlos – meine Schuld. Weil ich ihm nicht beigebracht habe, wie es richtig geht (Hä? Natürlich habe ich das, wir gehen zu Hause sehr wohl respektvoll miteinander um! Das kann ich in diesen Momenten aber nicht sehen. Es muss ja meine Schuld sein!). Ich habe in der Erziehung versagt. Meine Kinder werden genauso einen Knacks haben später wie ich jetzt. Meine Kinder werden mich genauso wenig lieben wie jeder andere. Ich bin einfach nicht liebenswert. Mein Mann sagt mir immer wieder, dass das Blödsinn ist. Ich höre die Worte, aber sie kommen nicht im Herzen an. Weil ich es nicht glauben kann.

Ich begann immer mehr, meine eigene Kindheit kritisch zu sehen und zu hinterfragen. Was war da passiert? Ich wurde ja gar nicht liebevoll begleitet! Mit mir wurde so viel geschimpft, ich durfte nicht fühlen, was ich fühlte und nicht sein, wie ich war. Autoritäre Erziehung, was für ein Mist! Ich wurde wütend. Immer wütender und immer anklagender meinen Eltern gegenüber (still in mir drin). Wussten sie eigentlich, was sie mir angetan haben?! Ich hätte es ihnen so gern erklärt, doch sie würden es nicht verstehen.

Inke twitterte neulich: „Wir wollen Eltern sein dürfen, die nicht alles so genau nehmen. Und wir nehmen alles sehr genau, was unsere Eltern getan oder gelassen haben. Das beschäftigt mich.“ Und auch mich begann es, zu beschäftigen. Unsere Eltern haben sicher nicht alles richtig gemacht, keine Frage. Aber auch sie sind nicht schuld! Erziehung macht nur ca. 30 % der gesamten Entwicklung aus, der Rest sind Genetik, äußere Einflüsse etc. Ich bin so sensibel, dass ich alles aufgesogen und persönlich genommen habe, was sie aus bestem Wissen und Gewissen getan haben. Natürlich ist meine Kindheit mitverantwortlich. Ich darf wütend sein, ja. Aber ich darf meinen Eltern nicht die Schuld geben für alles, was ich heute bin und fühle. Das wäre nicht fair. Und zu einfach gedacht.

Ich fühle mich wertlos, nicht liebenswert, schuldig an allem. Das ist eine Verkettung mehrerer Dinge. Meine Kindheit, meine Erfahrungen in Schule und Liebe, meine Genetik … All das spielt mit hinein. Mein Selbstbewusstsein hat massiv gelitten durch all diese Dinge. Aber ich bin kein hilfloses Opfer meiner Vergangenheit. Es wäre zu einfach, sich dauerhaft in die Opferrolle zu begeben. „Ich kann nichts dafür, meine Kindheit war einfach doof“ – nein. Den Vorwurf darf ich meinen Eltern, die aus ihrer Sicht immer das Beste für mich wollten, nicht machen. Ich bin selbst verantwortlich für mich und mein Leben. Das ist eine große Chance.

Leben ist Arbeit an sich selbst. Nur so gelingt Entwicklung. Nur so können wir andere Werte weitergeben und vorleben als das, was uns beigebracht wurde. Fortschritte feiern statt Rückschritte kritisieren. Sich selbst feiern für das, was man geschafft hat. Und sich selbst vergeben, wenn man „versagt“ hat. Ich bin nicht schuld.