Die „schöne Kindheit“

Zufällig habe ich neulich in Inkes Blog gelesen: „Brav, artig, ‚brave‘ – meinte mal tapfer, aber auch regelkonform. Das Kind, das nicht widerspricht. Der Soldat, der Befehle ausführt.“ Als ich das las, wurde ich wütend. Wieder mal. Und da ich nicht weiß, wohin mit meinen Gedanken, schreibe ich jetzt seit Langem mal wieder hier in der Halbdreiviertelanonymität.

In mir ist so viel kaputtgegangen unter dem Deckmantel der „schönen Kindheit“. Ich war „brav“. Ich war überbehütet. Meine Mutter hat mir nichts zugetraut, mich klein gehalten. Die Stimme in mir verteidigt sie sofort, weil sie das ja nicht wollte und die Gründe wahrscheinlich in ihrer eigenen Kindheit liegen. Ich weiß, sie hat immer mein Bestes gewollt. Dennoch bin ich wütend, und ich habe das Recht dazu, denn es ist MEIN Gefühl.

Ich will nicht mehr alles rechtfertigen. Immer wieder hat sie mir meine Gefühle abgesprochen und tut es bis heute. Dabei hatte ich so viele. Ich war zu ängstlich, zu bockig, zu laut … „Was sollen die anderen denken?“, „Reiß dich mal zusammen!“, „So schlimm war das ja nun auch wieder nicht.“ – All das habe ich so oft zu hören bekommen. Anscheinend waren meine Gefühle nie richtig. ICH war nie richtig. Ich war nur „gut“, wenn ich angepasst war. Unauffällig. Normal. Brav eben.

Ich weiß, sie wollte mich beschützen, vor der Welt, vor Gefahren, vor allem. „Ich hab es doch nur gut gemeint“, sagt sie dann immer. Dafür bin ich ihr auch sehr dankbar. Doch im Grunde hat sie mich nie beschützt. Und ich kann ihr nicht mal einen Vorwurf machen, denn sie wusste es nicht besser. Sie hatte selber Ängste, war unsicher, ohnmächtig … Aber ich bin auch nicht schuld! Niemand ist schuld. Es wäre irgendwie alles einfacher, wenn man einen Schuldigen hätte.

Ich wurde zwar abgeholt von Klassenfahrten bei Heimweh (und ich hatte so oft Heimweh!), aber es wurde dann nie wirklich darüber gesprochen. Ich wurde zwar getröstet bei Albträumen, aber immer irgendwie oberflächlich. Ich hatte das Gefühl, ich falle ihr zur Last, weil ich anscheinend nicht das Kind sein konnte, das sie gewollt hatte. Sie hat mir nie beigebracht, dass Gefühle ok sind. Wie ich mit ihnen umgehen kann. Im Gegenteil, ich sollte halt einfach nicht so viele davon haben. „Du bist da eben sehr empfindlich“ – Diesen Satz bekomme ich heute noch von ihr zu hören.

Nein, ich bin nicht „empfindlich“, ich bin empfindsam. Meine Schüchternheit gehört zu meinem Charakter und das ist normal und ok. Meine Gefühle sind meine Gabe. Und ich bin wütend, dass ich das nicht mehr sehen kann. Dass ich mich hasse für meine Gefühle, weil ich immer wieder denke, dass ich nicht ok bin so, wie ich bin. Dass ich mein Leben lang versucht habe, mich anzupassen, es allen recht zu machen, unauffällig zu sein – und dann irgendwann alles aus mir herausbricht und ich zusammenbreche, weil ich nicht gesehen werde.

Und mein Vater? Der war viel arbeiten. Ja, musste er, wir hatten nicht viel Geld. Er hat alles für mich getan. Ich bekam alles, was ich wollte und noch mehr. Wenn er abends nach Hause kam, musste er nur mit dem Finger schnipsen und ich ging Zähne putzen, ins Bett, was auch immer. Meine Mutter war dann immer traurig, eingeschnappt, wütend auf mich und ihn, weil sie sich vorher stundenlang den Mund fusselig geredet hatte und ich trotzdem nicht „gehorchte“. Er war der perfekte Wochenendpapa. Löste alles mit Humor und Witz. Ja, es hat funktioniert, ich habe ihn abgöttisch geliebt, fand es toll, habe lachend alles gemacht, was ich sollte. Aber wie ich mit Gefühlen, Konflikten etc. umgehe, habe ich dadurch nicht gelernt. Nur, dass alles nicht so schlimm ist, weil man es einfach weglachen kann. Nix passiert.

Nix passiert ist auch an diesem einen Tag. Danach fühlte ich mich unwohl, hatte das Gefühl, irgendwas war nicht in Ordnung gewesen an diesem lustigen „Spiel“, das wir spielten. Ich erzählte meiner Mutter davon. Leider erinnere ich mich nicht mehr an ihre Reaktion. Umso besser aber an die meines Vaters: Er war wütend. Er war oft wütend, aber nie auf mich. Aber da war er wie verwandelt. Er keifte mich an, warum ich „deswegen“ sofort zum Petzen rennen musste. Es wäre doch gar nichts passiert. Also muss sie ihn ja darauf angesprochen haben. Was hat er ihr erzählt? Hat sie ihm mehr geglaubt als mir? Dachte sie, ich denke mir das nur aus? Dachte sie wieder mal, ich übertreibe? Ich habe so viele Jahre lang tatsächlich genau das gedacht.

Als ich meiner Therapeutin in einem Nebensatz von dem Vorfall berichtete, fügte ich direkt hinzu „Aber wirklich schlimm war das ja nicht, andere erleben da ja ganz anderes“. Denn meine Mutter zog ja keinerlei Konsequenzen. Sie lag weiterhin neben ihm im Bett, wahrte die heile Welt, in der wir lebten. Ja, wahrscheinlich hatte sie selbst Angst. Angst vor seiner Reaktion, vor den Reaktionen des Umfelds, vor dem Alleinsein, vor finanziellen Problemen …

Trotzdem hätte sie mich beschützen müssen, es wäre ihre verdammte Pflicht gewesen. Aber sie hat mich alleingelassen. Heute erinnert sie sich nicht mal mehr daran. Was mir mal wieder zeigt: Es kann ja so schlimm nicht gewesen sein, ich übertreibe bloß wieder mal. Meine Therapeutin sagt, sie hat es wahrscheinlich zum Selbstschutz verdrängt. Dennnoch bin ich wütend. Ich hätte meine Mutter so sehr gebraucht.

Und heute? Heute überlege ich, endlich den Schritt zu gehen und mich von ihm zu befreien. Und sie? Sie wagt es allen Ernstes, mir zu sagen, ich solle mir das genau überlegen, immerhin würde ich den Kindern ihren einzigen Opa nehmen. Ich weiß nicht, was mich wütender macht, das Damals oder das Heute. „Solange du sie nicht mit ihm allein lässt, kann ja nichts passieren“, sagte sie. Dieser Satz war wie ein Schlag ins Gesicht. Wären wir nicht auf ihre Unterstützung angewiesen, hätte ich sie in diesem Moment rausgeworfen.

Ich bin so voller Wut und weiß nicht, wohin damit. Deswegen schreibe ich heute hier. Weil meine Wut NICHT falsch ist. Keins meiner Gefühle ist falsch. Aber es ist falsch, dass ich all die unterdrückten Gefühle und all die Wut an denen auslasse, die am wenigsten dafürkönnen: an meinen Kindern. Ich will meine Kinder nicht mehr anschreien, weil sie Ohnmacht und Hilflosigkeit in mir auslösen.

ER hat Ohnmacht und Hilflosigkeit in mir ausgelöst. Und meine Mutter hat das verstärkt, indem sie mir (und sich) eingeredet hat, es wäre alles gar nicht so schlimm und wahrscheinlich hätte ich auch alles nur irgendwie falsch verstanden. Indem sie mir beigebracht hat, dass man Gefühle lieber beiseite schiebt und verdrängt. Und indem sie nicht gegangen ist damals. Mit mir. Warum bloß ist sie nicht gegangen? Hat sie ihm geglaubt, dass er das nie wieder machen würde? Oder dass gar nichts passiert ist? Warum hat sie MIR nicht geglaubt?

Und ich muss jetzt all das wieder reparieren. Ich muss lernen, dass ich mir selbst etwas wert bin und für mich einstehen kann. Dass ich nicht mehr das hilflose Mädchen von damals bin, sondern die erwachsene Frau von heute. „HEUTE IST NICHT DAMALS.“ – Diesen Merksatz aus „Wir erwachsenen Trennungskinder“ werde ich auf gedanklichen Post-its überall auf meinen Erinnerungen und Gefühlen verteilen. Dieses Buch hat mich gefunden – ich hätte es wohl nie gelesen, wenn ich Inke und Julia nicht persönlich kennen würde.

Auch wenn meine Probleme nicht von der Trennung kommen, so erkenne ich mich doch in so vielen Schilderungen wieder. Das nicht vorhandene Selbstwertgefühl, das Nicht-Erkennen der eigenen Grenzen, das Gefühl, ständig allen zur Last zu fallen, sie zu nerven, sich aufzudrängen, Schuldgefühle, weil ich nicht unsichtbar bin … Ich habe endlich erkannt, dass es nicht meine Schuld ist, so zu fühlen.

Und, dass ich nicht verharren darf in diesen Gefühlen. Ich kann mich jetzt zur Wehr setzen und werde nicht mehr zulassen, dass mir jemand Schmerzen zufügt, egal ob physisch oder psychisch. Aber ich muss mich gegen die Auslöser zur Wehr setzen, nicht gegen meine Kinder, die diese Gefühle zwar triggern, aber NICHT schuld an alldem sind.

„Meine Kindheit hatte ich nicht bestimmen können. Meine Entwicklung hatte ich da noch nicht in die Hand nehmen können. Aber mir wurde klar, dass ich meine Gegenwart gestalten konnte – und das tat ich. Für mich.“
(Inke Hummel in „Wir erwachsenen Trennungskinder“)

Und ich werde alles dafür tun, dass meine Kinder immer wissen, dass all ihre Gefühle ok sind. Ich versuche, ihnen beizubringen, wie sie mit ihnen umgehen können – was so schwer ist, weil ich es selbst nie gelernt habe. Aber eins werde ich sicher immer tun: ihnen glauben und ihre Gefühle ernst nehmen. Und dann mit ihnen gemeinsam hinschauen, was wir tun können.

Vielleicht kann ich eines Tages verzeihen, ich weiß es nicht. Vielleicht ist die Wut eines Tages verraucht, wenn ich sie rausschreibe, rausschreie, rausweine … Vielleicht kann ich akzeptieren und heilen, eines Tages.