Stress, Stress, Stress – Fluch und Segen von Social Media

Nie hätte ich gedacht, dass Social Media mal so viel Stress in mir verursachen würde. Ich war schon immer gern „online“, habe in Foren gelesen, auf Instagram gesurft und auf Twitter geschrieben. Google war mein bester Freund, egal, worum es ging. Mit meiner Elternschaft begann die Verunsicherung. Wie gut, dass es da das Internet gab! Ich konnte googlen „Baby 6 Monate krabbelt noch nicht – normal?“ Ich war Mitglied in verschiedenen WhatsApp-Mama-Gruppen zum Austausch.

„Hilfe, ist der 19-Wochen-Schub bei euch auch so schlimm?!“, schrieb eine verzweifelte Mutter. Oh je, der steht ja bei uns auch bald an! Ich bekam schon mal vorsorglich Angst und notierte mir im Kalender, wann es voraussichtlich losgehen würde. Und schaute noch mal in die „Oje, ich wachse“-App, damit ich die Anzeichen des Schubs auch direkt erkenne. (Dieses Buch hat meine Unsicherheit massiv unterstützt! Bitte lest lieber „Miteinander durch die Babyzeit“ von Inke Hummel.)

Bald entdeckte ich auch den Begriff „bedürfnisorientierte Erziehung“, las Blogs, sah Reels und und geriet so immer mehr in den Strudel der „perfekten BO-Welt“. Versteht mich nicht falsch, ich stehe voll und ganz hinter den BO-Gedanken und bemühe mich, sie so weit wie möglich auch selbst zu leben. Es war mein Anspruch an mich selbst, der mich zugrunde gehen ließ. Ich habe im Hochsommer nichts mehr getrunken, weil mein Baby den ganzen Tag auf mir schlief. Schlafen war sein Bedürfnis und ich konnte es daher ja nicht ablegen – es hätte ja geweint! Dass Trinken eins MEINER Grundbedürfnisse war, habe ich übersehen.

Viel zu lange habe ich ALLE meine eigenen Bedürfnisse übersehen, was dazu führte, dass ich mittlerweile gar nicht mehr sagen kann, was meine Bedürfnisse eigentlich sind. Ich war es mir selbst nicht wert, dass es auch um meine eigenen Bedürfnisse gehen sollte. Mein Kind stand immer an erster Stelle. SEINE Bedürfnisse zählten. BO eben. (Nein! BO bezieht sich ausdrücklich auf die Bedürfnisse ALLER, das wollte oder konnte ich damals aber nicht sehen. Das ist nicht die Schuld von BO, sondern meines fehlenden Selbstwertgefühls.)

All die Mütter, die so stressige Situationen so bedürfnisorientiert regelten. Wow! Da wurden Wutanfälle stundenlang liebevoll begleitet, Gefühle ausgehalten, jede schwierige Situation geduldig mit dem Kind nachbesprochen … Je mehr ich las, desto mehr wusste ich, wie sehr man seinem Kind schaden kann mit autoritärer Erziehung, mit Strafen, mit (verbaler und körperlicher) Gewalt. Das baute Druck in mir auf. Jede Situation, die ich NICHT BO-konform regeln konnte, machte mich fertig. Wieder nicht geschafft! Was tue ich der armen Kinderseele an. Jeder weiß doch, dass das Urvertrauen erschüttert wird, wenn man seinem Kind androht: „Dann gehe ich jetzt alleine nach Hause!“ Und trotzdem habe ich es gemacht. Weil ich gestresst war und auf alte Muster zurückgegriffen habe.

Also schaute ich mir gleich erst mal wieder ein paar Videos an von Müttern, die BO leben, ihre Kinder liebevoll, unverbogen, frei etc. aufwachsen lassen und begleiten. Die großlieben, statt zu erziehen. Wie machen die das bloß? Sind meine Kinder anstrengender als ihre? Oder bin ich einfach zu schwach, immer geduldig zu bleiben? Und wieso flippt mein Fünfjähriger gerade immer so aus? Erst nur zu Hause, jetzt auch noch in der Kita. Begleite ich seine Gefühle nicht ausreichend? Braucht er psychologische Hilfe?

Erst mal googlen: „Kind Impulskontrolle wann?“ Ok, Impulskontrolle entwickelt sich so zwischen 4 und 6 Jahren. Jetzt ist es aber höchste Zeit, ihn endlich adäquat zu unterstützen! Gefühle begleiten, erklären, Verständnis zeigen, Gespräche auf Augenhöhe … Dann ist das in ein paar Tagen bestimmt besser. War es jedoch nicht. Habe ich mich noch nicht genug angestrengt? Anscheinend sehe ich sein eigentliches Bedürfnis nicht. Oder sind es die Erzieherinnen, die es nicht sehen? Muss ich intervenieren, zum Wohle meines Kindes? Seine Seele darf doch nicht verletzt werden durch alte Erziehungsstile – nicht, dass sie ihn womöglich bestrafen für sein Verhalten! Da hatte ich doch neulich erst einen Post zu gelesen …

Später auf Facebook wird mir eine Werbeanzeige vorgeschlagen. Eine Gruppe, geleitet von einer „erfahrenen Expertin“ (Wofür? Das stand da nirgends.): „Dein Kind ist kein Problemkind! Es gibt keine schwierigen Kinder und ich sage dir, warum.“ Oh, wie passend! Genau darüber habe ich mir doch gestern erst Gedanken gemacht, ob mein Kind das Problemkind im Kindergarten ist. Zufälle gibts! Ein paar Tage später die nächste Werbung für „Mamas mit gefühlsstarten Kindern“, die doch bitte dringend wieder zu Kräften kommen sollten, um für die Kinder da sein zu können: „Wir erwecken die Soul-Mama in dir!“

Zum Glück war ich in meinen Gedanken da schon weit genug um zu wissen, dass das Werbeanzeigen aufgrund meiner Suchanfragen im Netz sind. Geschockt hat es mich trotzdem, wie die Unsicherheit anderer ausgenutzt wird für Werbung. Wie viel „Coaching“ angeboten wird online. Für den Umgang mit Kindern, für das eigene Wohlbefinden als Mutter … Die Anzeigen sind teilweise wirklich gut gemacht und klingen so sinnvoll, dass sicher viele dafür Geld ausgeben.

Ich will das Internet nicht verteufeln. Vernetzung halte ich wirklich für wichtig und auch, dass wir über viele Themen nicht mehr schweigen, sondern endlich reden. Öffentlich, um Tabus zu brechen. Damit wir sehen, dass wir nicht allein sind in unserem Eltern-Struggle, in unserer Unsicherheit, in unseren Gedanken, in unserer Überforderung. Aber wir sollten alles, was wir lesen, sehen und hören (sei es im Internet, in Ratgebern oder im persönlichen Umfeld) nicht als Allheilmittel sehen, sondern als Gedankenanstöße, aus denen wir uns das herausziehen, was für uns persönlich passt. Reflexion ist wichtig, definitiv. Aber wir sollten alles hinterfragen – unsere eigenen Ansichten, aber auch, was uns im Internet begegnet. Damit wir nicht ausbrennen und uns selbst nicht verlieren in den Tiefen der Social Media.