Selbstwert gesucht

Ich hasse diese Stimme so sehr, die mir ständig sagt, wie dumm und falsch und wertlos ich bin. Irgendwie hat sie sich in mein Leben geschlichen, ganz unbemerkt. Sie ist mein treuer Begleiter, stets zur Stelle, um mich zu rügen, wenn ich mal wieder nicht gut genug war. Etwas beim Einkaufen vergessen? WIE DUMM DU BIST! Etwas kaputt gemacht? DAS WAR JA KLAR! Auf der Arbeit einen Fehler gemacht? SIEHSTE, DU MACHST WIRKLICH ALLES FALSCH!

Und wenn ich mal etwas gut oder richtig mache? Egal. DARAUF darfst du ja wohl nicht auch noch allen Ernstes stolz sein wollen! Das ist ja wohl SELBSTVERSTÄNDLICH, dass man das hinkriegt! Im Grunde besteht mein Leben nur noch aus dem Versagen, dem vermeintlichen Versagen und dem erwarteten Versagen. Kein Wunder, dass ich mich morgens manchmal frage, warum ich eigentlich überhaupt noch aufstehe.

Inzwischen weiß ich, dass diese Stimme fast so alt ist wie ich selbst. Dass sie gefüttert wurde von klein auf. Mit jedem „So schlimm ist das doch gar nicht“, „Du musst doch nicht weinen“, „Jetzt hör aber mal wieder auf“, „Stell dich doch nicht so an“ … Wieso ist es bloß so schwer, die Gefühle von anderen ernst zu nehmen? Sie zumindest zu akzeptieren, anstatt sie dem anderen direkt wieder abzusprechen?

Wenn dann jemand anderes sagt, dass ich doch aber so vieles gut kann, so tolle Eigenschaften habe etc., mischt sich die Stimme direkt wieder ein. Glaub dem kein Wort, der meint das nicht ernst! Der veräppelt dich doch nur! Wie kann mein Mann mich eigentlich lieben, wo ich doch zu dumm für alles bin? Und fett und hässlich noch dazu. So jemanden liebt man doch nicht. Ich muss mich mehr anstrengen, besser werden, um wieder liebenswert zu sein.

Weil das die Quintessenz dessen ist, was ich als Kind schon gelernt habe. Ich bin nur richtig, wenn ich gut bin. Noch besser als gut. Ein bisschen mehr besser. Ein bisschen weniger anstrengend. Ein bisschen mehr unauffällig. Ein bisschen weniger gefühlslastig. Ich bin einfach zu viel und gleichzeitig zu wenig.

Dabei würde ich so gern auch mal wieder sehen können, was die anderen sehen. Ein realistisches Bild auf mich selbst haben. Nicht nur die schlechten, sondern auch die guten Seiten sehen. Denn dass ich davon welche habe, weiß ich ganz tief irgendwo in mir vergraben selbst. Ich erinnere mich dunkel an die Zeiten, in denen ich das noch spüren konnte. Stolz auf mich war, wenn ich etwas geschafft hatte. Mich freuen konnte über meine Erfolge.

Wann genau ist das abhandengekommen? Es muss ein schleichender Prozess gewesen sein, irgendwann nach der Ausbildung, als es auf der Arbeit bergab ging. Und der richtige Einbruch kam mit den Kindern. Die naturgemäß immer nur Forderungen stellen, statt Dankbarkeit zu zollen und zu loben. Die immer nur meckern, wenn etwas „schlecht“ läuft. Gepaart damit, dass ich sowieso oft nicht mehr in der Lage bin, Dinge sachlich aufzufassen, ist das eine explosive Mischung. „Mama, die Schokolaaaaade ist alle!!!“ wird dann in meinen Ohren direkt zu „Du blöde Kackmama hast nicht sofort alles fallen lassen, um neue Schokolade zu kaufen!!!“ Bäm. Wieder versagt. Jemanden enttäuscht. Wie immer. War ja klar.

Diese Denkmuster zu durchbrechen, ist so wahnsinnig schwer. Eine gut ausgebaute Autobahn fährt sich einfach besser als quer durchs Feld. Aber wenn man den Feldweg oft genug fährt, wird er zur neuen Lieblingsstrecke, die man fährt, ohne drüber nachzudenken, wo es langgeht. Und das ist mein Ziel. Irgendwie durchhalten. Weitermachen. Weniger versagen, mehr richtig machen. Mich über kleine Erfolge freuen. Wieder stolz auf mich sein können. Neue Gehirnautobahnen bauen.

Und zu diesem Weg gehört auch das Versagen, das Wiederaufstehen, das Immerwiederneuversuchen, das Nichtaufgeben. Das ist das Schwerste daran. Jeden Tag aufs Neue der inneren Stimme den Mittelfinger zu zeigen, sie nicht meine Gedanken bestimmen zu lassen. Das eigene Versagen immer wieder neu ertragen, hinnehmen, annehmen. Kämpfen. Sich taub stellen. Weiterfahren. Bis ich die Straße auch blind fahren kann. Eines Tages.